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Idee
Mit dem Archiv der Flucht wurde ein digitaler Gedächtnisort geschaffen, der die Geschichte/n von Flucht und Vertreibung nach Deutschland im 20. und 21. Jahrhundert bewahrt und reflektiert. Die Erfahrungen von Menschen, die alles zurückgelassen haben und hier Zuflucht fanden, prägen die beiden deutschen Staaten (und ihre Beziehung zueinander) von Beginn an. Manche sind vor Krieg und Zerstörung geflohen, andere vor politischer Verfolgung oder sozialer, kultureller oder rassistischer Ausgrenzung, wieder andere vor sexueller Diskriminierung oder sexualisierter Gewalt. Diese Menschen erzählen von Flucht und Vertreibung, über Folter, Ausbeutung und Entrechtung, aber auch von Hoffnung und Glück, sie sprechen über Heimat und Exil, Zugehörigkeit und Neuanfang – und am Ende offenbaren sie auch überraschende, vielfältige Perspektiven deutscher Geschichte.
Ihre Geschichten zeigen, dass Flucht und Migration nach Deutschland keine Ausnahmen oder krisenhaften Anomalien sind, sondern historische Normalität. Trotzdem hat es lange gedauert bis die Pluralität der Herkünfte und Erfahrungen der hier lebenden Menschen auch im öffentlichen Selbstverständnis der Gesellschaft angekommen ist. Die Geschichte/n derer, die hierher fliehen mussten, haben immer nur punktuelle Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wurden nur zögerlich sichtbar und hörbar. Und auch dies meist nur dann, wenn sie sich Hörbarkeit erstritten oder wenn es um die Erinnerungen einer bestimmten Gruppe von Menschen ging.
Das Archiv der Flucht nimmt bewusst keine Hierarchisierung von Fluchterfahrungen vor. Es versammelt ausdrücklich die Erinnerungen verschiedener Generationen von Menschen: Von der Flucht aus Schlesien im Jahr 1945 bis zur Flucht aus Libyen im Jahr 2016. Es birgt das ganze Spektrum an Geschichten, erzählt von jungen oder älteren Menschen, von Müttern oder Töchtern, die alles zurücklassen mussten. Für das Archiv der Flucht wurden Menschen aus allen Gegenden der Welt aufgenommen. Es können kurze oder lange, qualvolle Fluchtwege sein.
In zeitoffenen Gesprächen widmen sich die Interviewer*innen des Archivs dem Zuhören und Dokumentieren der Geschichten von Menschen, die hier Zuflucht gefunden haben. Als Erzählungen folgen sie ihrem eigenen Rhythmus und ihrer eigenen Zeitlichkeit: Manchmal geraten sie ins Stocken, manchmal schweifen sie ab oder weichen aus, manchmal beschleunigen sie und machen Sprünge. Diese Erzählungen sind nicht immer linear oder übersichtlich. Wie alle Erinnerungen bergen sie Irrtümer oder Auslassungen, sie berühren alte Schmerzen oder sind mit Scham besetzt. Manchmal brechen sie ab und können erst nach einer Pause wieder aufgenommen werden. Das alles gehört dazu. Die filmisch-dokumentarischen Gespräche im Rahmen eines solchen Oral History-Projekts dürfen und müssen etwas anderes sein als die behördlichen Anhörungen beim Bundesamt für Migration und Flucht. Niemand wird geprüft oder bewertet.
Das Archiv der Flucht will die Erfahrungen, die die Flucht verursachten und die sich hier kreuzen, bewahren, weil sie sonst vergessen und verdrängt werden. Erst mit und durch diese Geschichten kann es gelingen, die Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft zu verstehen. Welche Ähnlichkeiten spiegeln sich in den unterschiedlichen Fluchterfahrungen und welche Unterschiede werden deutlich? Mit welchen Wünschen und Ambitionen, aber auch welchen Traumata sind die Menschen hierhergekommen? Welche Erfahrungen des Ankommens und der Ausgrenzung wiederholen sich? Wie werden die sozialen, politischen oder kulturellen Schwellen der Zugehörigkeit verhandelt oder verändert? Was erzählen sie uns über das Hier? Was heißt das eigentlich: Flucht?
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Entstehung
Das Archiv der Flucht hat sich Zeit gelassen. Nicht nur in den Gesprächen mit den Protagonist*innen, die über ihre Herkunft, ihre Flucht und ihr Leben hier in Deutschland erzählen, sondern vor allem mit der Konzeptualisierung und Entwicklung des Projekts. Von Anfang an wurde ein multiperspektivisches Team an Mitwirkenden gesucht, die aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und Erfahrungen auf die Methodik und Vorgehensweise des Archiv-Projekts gestalten.
Über anderthalb Jahre wurden Workshops mit diesem interdisziplinären Team aus Interviewer*innen und Berater*innen organisiert, um zu reflektieren: Welcher Fluchtbegriff wird dem Archiv zugrunde gelegt? Welche Zeitspanne soll das Sample an Protagonist*innen umfassen? Wie lässt sich verhindern, dass die filmisch-dokumentarischen Gespräche die potentiell traumatische Erfahrung der Anhörungen des Bundesamts für Migration und Flucht wiederholen? Welche Themen und Motive sollten sich durch alle Gespräche ziehen, damit sich auch strukturelle Ähnlichkeiten (oder Unterschiede) in den Erzählungen erkennen lassen? Wie offen und frei müssen trotzdem die Interviewer*innen sein, ihrem Gegenüber auch im Gespräch zu folgen und sensibel zu reagieren auf Bedürfnisse und Interessen derer, die ihre Geschichte erzählen? Wie lässt sich vermeiden, dass in einem solchen Archiv nur die zu Wort kommen, die ohnehin privilegierter sind, die ohnehin eher gehört und gesehen werden?
Erst danach wurde mit der Kommunikation des Projekts in relevante Communities, Vereine, Hilfsorganisationen begonnen, auf der Suche nach Menschen, die mitwirken würden. Dabei wurde immer wieder darauf geachtet, dass die Auswahl der Gesprächspartner*innen nicht die üblichen Mechanismen der Exklusion und Diskriminierung wiederholt: Es wurde nachjustiert und auch sehr gezielt nach Erfahrungen und Herkunftsländern gesucht. Frauen, weniger gut Ausgebildete, ältere Menschen sollten ebenso sichtbar werden mit ihren Erzählungen wie junge, berufstätige Männer.
Gemeinsam mit der Filmemacherin Heidi Specogna wurde ein filmisches Konzept entwickelt, das für das Archiv eine eigene Bildsprache und Ästhetik schafft. Darin sollte der Respekt für die Menschen, die uns mit ihren Erzählungen vertrauen und bereit sind, diese öffentlich zu machen, Ausdruck finden. Sie sollten so ins Bild gesetzt werden, wie es die Situation des Vertrauens erfordert. Deswegen wurde eine einheitliche Kulisse für alle Gespräche gebaut.
Es bleiben auch signifikante Lücken in dem Archiv der Flucht, die benannt werden müssen: Wer sexualisierte Gewalt erfahren hat, wer gefoltert und gequält wurde, kann oder will darüber nicht unbedingt sprechen, wer ohne rechtlichen Status im Versteckten leben musste, kann oder will nicht seine Identität vor der Kamera preisgeben, wessen Angehörige oder Familie noch im Herkunftsland leben, möchte sie durch regime-kritische Aussagen nicht gefährden. Die Lücken des Archivs sind also Lücken der Gewalt, des Terrors oder der Schutzlosigkeit, sie erzählen von Angst oder Scham und Schmerz. Die Protagonist*innen des Archivs sollten auch aus diesem Grund immer Autor*innen ihrer eigenen Geschichten bleiben. Sie konnten im Gespräch jederzeit abbrechen, Pausen einlegen, aber auch anschließend darum bitten, dass eine unangenehme, schamvolle oder belastende Passage im Schnitt wieder herausgenommen wird.
- Methodik
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Auswahl Sample
Wenn wir uns um eine Breite der Erzählungen und Erfahrungen bemüht haben, so sind wir uns über die Unvollständigkeit unseres Projekts bewusst. Ein Archiv spricht immer davon, dass es weitergeführt, ergänzt und erweitert werden kann und soll. Es wurde ein Sample zusammengestellt, dass keine Vollständigkeit beanspruchen will. Stattdessen wurde auf signifikante Perspektiven gesetzt. Als Gesprächspartner*innen wurden sie als Individuen wahrgenommen. Sie konnten und sollten nicht die Bürde der Repräsentation der „Flucht aus einem bestimmten Land“ tragen. In ihrer Gesamtheit werden Umrisse von globaler Geschichte ebenso deutlich wie die historischen Entwicklungen in den beiden deutschen Staaten bis nach der Vereinigung. Zugleich erzählen sie von der durchaus wechselvollen Politisierung von Flucht und Migration.
In das Archiv der Flucht wurden Menschen aus allen Gegenden der Welt aufgenommen, die in neun verschiedenen Sprachen erzählen. Insgesamt versammelt das Archiv Gesprächspartner*innen aus 27 Herkunftsländern aus Südamerika, Afrika, Ost- und Südosteuropa, aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Südost- und Ostasien. Das Archiv umfasst die unterschiedlichsten sozialen oder kulturellen Hintergründe, Religionen, Sexualitäten. Es werden 41 Menschen vorgestellt, 18 Frauen und 23 Männer, wovon sich vier als LGBTIQ einordnen. Zum Zeitpunkt der Aufzeichnungen waren die Protagonist*innen zwischen 19 und 87 Jahre alt. Auch was den Ausbildungshintergrund oder die Erwerbstätigkeit angeht, wurde auf Diversität geachtet: vom Schäfer bis zu Professor*innen, von Arbeiter*innen bis zur Oberschicht ist alles vertreten.
Aus Gründen der logistischen Machbarkeit wurde die Auswahl auf Personen beschränkt, die aus der Region Berlin-Brandenburg kommen. In einer anderen Stadt oder Region wären sicherlich auch andere Querschnitte entstanden. Im Verlauf der vier nacheinander folgenden Drehblöcke wurde das Sample fortlaufend auf Mechanismen der Exklusion oder der sozialen Marginalisierung überprüft – und jeweils nachjustiert, sodass auch jene Stimmen und Perspektiven gesucht wurden, die sonst vernachlässigt werden.
Der Begriff der Flucht selbst, also auch die Kriterien, die an die Auswahl angelegt wurden, ist kontrovers. Bei dem Archiv der Flucht war entscheidend, dass diese Menschen nicht freiwillig gegangen (oder geblieben sind). Unser Begriff der Flucht umschließt so zum Beispiel nicht nur Menschen, die ihre Herkunftsländer zwangsweise verlassen mussten, sondern auch Menschen, die ursprünglich mit einem Stipendium oder zum Arbeiten hierherkamen, deren Status sich im Verlauf ihres Aufenthalts aber änderte, weil sie nicht mehr in ihr Land zurückkehren konnten und damit ins Exil gedrängt wurden. In ihrer Gesamtheit fordern die Gespräche die politische Vorstellungskraft, die bisweilen Flucht und Nicht-Flucht so klar zu definieren und voneinander zu trennen versucht, stark heraus.
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Interviewer*innen
Mit der Auswahl der Interviewer*innen sollte eine Gruppe von Personen zusammengestellt werden, die nicht nur die filmisch-dokumentarischen Gespräche behutsam und klug führen können, sondern die auch an der Entwicklung des Konzepts, der gemeinsamen Vorbereitung in Seminaren und Workshops mitwirken sollten. Die blinden Flecken des Projekts, die möglicherweise falschen Annahmen oder Unterstellungen, sollten immer wieder aus verschiedenen Perspektiven kritisiert und korrigiert werden können.
Deswegen war es für das Archiv der Flucht von Anfang an unverzichtbar, dass die Interviewer*innen unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen und kulturelle Hintergründe versammeln. Die Gruppe sollte verschiedene Erfahrungen und Wissensformen einbringen, aber auch ein breites Spektrum in Alter, Migrationserfahrung und Herkunft abdecken. Es sind jüdische, muslimische oder atheistische, heterosexuelle oder homosexuelle, weiße oder Schwarze Interviewer*innen, die sich zusammen auf dieses mehrjährige Projekt eingelassen haben.
Bis auf einige wenige, die erst später zum Archiv der Flucht hinzugestoßen sind, haben die Interviewer*innen alle Phasen der Entstehung, der Auswahl der Gesprächspartner*innen, der Entwicklung der Fragestellungen und des Leitfadens für die Gespräche sowie auch der Kriterien für die Recherchefunktionen der Website durchlaufen und mitgestaltet. Zu dem Wissen und der Erfahrung, die schon in der Gruppe der Interviewer*innen gebündelt waren, kam noch ein Team an Expert*innen hinzu, die das Projekt in allen Phasen seit 2016 begleitet haben: dazu gehörte die juristische Beratung in Bezug auf Asyl- und Aufenthaltsrecht, die psychologische Beratung im Hinblick auf mögliche Traumatisierung der Protagonist*innen, aber auch sprachlich-technische Beratung für die Verdolmetschung der Gespräche.
Das Team aus Interviewer*innen und Berater*innen bestand aus: siehe Mitwirkende
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Gesprächsführung/Leitfaden
Der gemeinsam entwickelte Leitfaden bot eine dramaturgische und thematische Orientierung für die Gespräche. Er strukturiert die Erzählungen anhand der biographischen Entwicklung: Das Gespräch beginnt bei der Kindheit und endet im Jetzt, es verläuft über die Herausbildung der Entscheidung zur Flucht, über die mal zügigen, mal langen, verworrenen Strecken des Transits bis zum erst kurzen oder auch jahrzehntelangen Leben in Deutschland. Die Gewichtungen der Themen und die Dauer der Gespräche sind durch die Gesprächstandems bestimmt worden, sodass die Länge der Interviews von einer bis sechs Stunden reicht.
Es wurde Wert darauf gelegt, mit den Erwartungen an Repräsentativität ihrer Geschichte als Flucht-Geschichte produktiv umzugehen: So sollte jede*r die eigene Biographie und die Erfahrung der Flucht darin erzählen können, aber zugleich auch diese individuellen Geschichten mit konjunkturellen, strukturellen und lokalen Bedingungen kontextualisiert werden.
Ob der vorab entwickelte Leitfaden die konzeptionellen Vorstellungen in der Praxis einlösen kann, wurde während des Prozesses kritisch hinterfragt. Nach den ersten gedrehten Gesprächen haben sich die Interviewer*innen über ihre Erfahrungen ausgetauscht, um zu reflektieren, woran es noch mangelt, was korrigiert werden muss, worauf es zu achten gilt, was übersehen wurde. Deutlich wurde bereits hier, dass eine allzu starre Anwendung des Leitfadens kaum den unterschiedlichen disziplinären Hintergründen der Interviewer*innen entsprechen, aber vor allem den heterogenen Erzählungen und Erfahrungen der Gesprächspartner*innen nicht standhalten würde.
Der Leitfaden bietet eine Struktur an, die einerseits bestimmte Topoi und Motive aufruft und andererseits eine dramaturgische Reihenfolge vorschlägt. Aber es bleiben immer noch Gespräche, die der Dynamik aus Erzähl- und Fragemodus der Protagonist*innen folgen und darin ganz eigene Ordnungen erzeugen. Trotzdem erlaubt es der Leitfaden, anhand wiederkehrender Themen, auch Ähnlichkeiten oder Differenzen der Geschichten zu identifizieren.
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Film/Schnitt
Im Mittelpunkt des Archivs der Flucht steht ein Gespräch zwischen einem/einer Interviewer*in und einem/einer Interviewten. Eine klassische, dokumentarische Arbeitssituation. Erzählen und Zuhören.
Die wichtigste Voraussetzung ist es, hierbei einen Gesprächsraum zu schaffen, der das Entstehen von Nähe und Vertrauen zwischen den beiden Gesprächsteilnehmer*innen ermöglicht. Ein Setting, das den Interviewten für das Teilen ihrer Geschichte Sicherheit und Wertschätzung vermitteln kann. Das Archiv der Flucht will den Menschen zuhören, ganz unabhängig von ihrem rechtlichen Status, ihrer Herkunft, ihrer Fluchtroute, ihrer Sprache. Es soll nicht abgefragt und auch nicht politisch oder juristisch bewertet oder verurteilt werden.
Der Aufnahmetechnik – Kamera, Licht, Ton – kommen hier Eigenschaften zuteil, die diesen Ansatz auf ihre besondere Weise unterstützen: Sie können präsent und zugleich diskret eingesetzt werden. Präsent im Sinne von „dokumentieren“ und diskret im Sinne von „sich dem Gesprächsverlauf unterordnen“. Diese Atmosphäre sollte sich deutlich von anderen Befragungen – etwa im Rahmen von Asylanträgen – abheben.
Die Drehsituation kennzeichnet ein klares Setting: Die Kamera, und somit die Aufmerksamkeit, ist auf die Interviewten gerichtet. Die Kamera steht auf einem Stativ, es werden maximal zwei Einstellungsgrößen gedreht, dezente Lichtsetzung, ein klarer Ton. Im Hintergrund des Bildes steht bei allen Gesprächen eine grau-grün gesprenkelte Kulissenwand – dadurch wird ein einheitlicher Raum geschaffen und ein konzentrierter Fokus auf die Menschen und ihre Erzählungen ermöglicht. Das Gespräch wird durchgehend dokumentiert, es werden keine Schnittbilder gedreht. Die Zuschauer*innen sehen und hören synchron.
Zu Beginn jedes Interviews erfolgt eine kurze dokumentarische Einführung: Die beiden Gesprächspartner*innen begrüßen sich, das Studiosetting ist zu sehen, der Lichtaufbau, manchmal der/die Tontechniker*in, der/die die Protagonist*innen verkabelt. Das Gespräch wird mit einer Portraitaufnahme des/der Interviewten und manchmal mit einer Verabschiedungsgeste zwischen den beiden Gesprächsteilnehmer*innen beendet.
Die Montage orientiert sich ganz am Verlauf des Interviews. Keine Einstellungswechsel während des Gesprächs, keine nachträgliche Dramatisierung oder Verdichtung der Interviews. Die Vorgabe war: Dem Nachdenken und den Gedankenpausen den Raum zu lassen, die sich während des Gesprächs eröffnen; ein Resonanzraum, in den auch die Betrachter*innen eintreten können. In der konkreten Montagearbeit bedeutet das: Geschnitten (bzw. gekürzt) wurden die Interviews nur, wenn der/die Interviewte dies aus persönlichen Gründen so wollte. Oder bei einer richtigen Gesprächspause, wenn Ton und Kamera abgestellt worden sind.
Diese Stellen sind in den Interviews markiert und somit für den/die Betrachter*in deutlich gekennzeichnet: mit jeweils 4 Sekunden Schwarzbild bevor das Gespräch fortgesetzt wird. Auch hier steht die Haltung im Mittelpunkt, sich der dokumentarischen Dramaturgie und dem Verlauf der Gespräche unterzuordnen, durch die filmische Bearbeitung nichts zu verschleiern oder zu verschönern, sondern im Gegenteil, dort wo Eingriffe stattgefunden haben, diese mit Schwarzblende zu verdeutlichen.
Dieses filmische Konzept vertraut auf die Kraft der dokumentierten Gespräche und Begegnungen.
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Sequenzierung/Inhaltsverzeichnis
Ebenso wie sich das Archiv der Flucht Zeit gelassen hat, sollten sich auch die Zuschauer*innen bei der Sichtung der Interviews Zeit lassen. Die Interviews sind dazu gedacht, in Gänze angesehen zu werden. Die Zuschauer*innen sollten sich möglichst der gesamten Länge der Interviews aussetzen; ganz so, wie die Protagonist*innen und die Interviewer*innen sich dem gemeinsamen Gespräch – und schließlich einander – ausgesetzt haben. Trotzdem sollte auch eine Möglichkeit geschaffen werden, die den Zuschauer*innen die Gelegenheit gibt, die Interviews nach Begriffen und Kapiteln zu durchsuchen. Es stellte sich somit die Frage, nach welchen wissenschaftlichen Methoden vorgegangen werden soll, um die Interviews zu strukturieren und zu kategorisieren.
Es wurde zunächst entschieden, auf ein Kodier-Verfahren aus der qualitativen Sozialforschung zurückzugreifen und diese anhand eines exemplarischen Interviews auszuprobieren – wobei die Methode dem Material und den Zielen des Archivs der Flucht angepasst, modifiziert und teilweise umgekehrt wurde. Um dem Material (also den Interviews) Kodes bzw. Begriffe zuordnen zu können, war es notwendig, ganz nah am Text (den Interview-Transkriptionen) zu arbeiten. Unter Rückgriff auf den Interview-Leitfaden wurde so die Kernkategorie „Flucht und Migration“ in weitere Ober- und Unterkategorien zergliedert – hier wurde die Methode des Offenen Kodierens auf den Kopf gestellt.
Im ersten Schritt wurde der Text bzw. die Transkription komplett gelesen, um sich so zunächst mit der Geschichte vertraut zu machen und die Sprechende(n) kennenzulernen. Es bot sich an, bereits hier markante und signifikante Stellen zu markieren und wiederkehrende Motive zu notieren.
Anschließend wurden nach der qualitativen Methode des Offenen Kodierens all jene Stellen der Transkription, die zu der Kernkategorie „Flucht und Migration“ passen, bearbeitet. Zuerst wurden Worte, Sätze oder ganze Absätze in Sinneinheiten zergliedert und mit einem dazu passenden Begriff versehen. Hierbei wurden sowohl Begriffe, die aus dem Material stammen als auch neue, aber sinnverwandte Begriffe formuliert. Jeder Begriff wurde mit der markierten Stelle im Text und mit dem dazugehörigen (im Transkript enthaltenen) Timecode versehen.
Die aus diesem Verfahren abgeleiteten Begriffe wurden abschließend jenen Ober- und Unterkategorien zugeordnet, die zuvor dem Interview-Leitfaden entnommen wurden. Kategorien, die nicht aus dem Leitfaden stammten, sondern aus dem Text entwickelt wurden, konnten ergänzt werden. Dadurch sollte gewährleistet werden, dass die Liste der Kategorien (Ober- oder Unterkategorien) mit jedem Interview weiterentwickelt werden könnte.
Nach weiteren Überlegungen und Gesprächen erschien diese Methode jedoch als nicht zielführend für das Archiv der Flucht, da mit ihr viel zu stark in das Material eingegriffen wurde. Denn jeder Begriff, der einer Passage zugeordnet wurde, stellte eine Interpretation der kodierenden Person dar. Das Archiv der Flucht möchte jedoch keine Erklärung oder Deutung vorgeben – dies obliegt ganz und gar den zuschauenden und betrachtenden Besucher*innen der Website. Daher fiel die Entscheidung auf einen weicheren, kaum bemerkbaren Eingriff durch die Sequenzierung des Interviews. Hierbei wurde das Interview (der Text, die Transkription) in größere Sinneinheiten bzw. Sequenzen oder Kapitel unterteilt. Diese Sequenzen, die ebenfalls mit Timecodes versehen wurden, dienen nun als Inhaltsangabe. Von dort aus können die Zuschauer*innen – wie auf einem DVD-Menü – die verschiedenen Kapitel anwählen und werden anschließend zu der gewünschten Stelle des Interviews geführt.